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Wer sie wirklich sind



Immer schon war ich anders gewesen als die anderen, das hatten sie mir deutlich zu spüren gegeben. Sie hatten mir klar gemacht, dass ich nicht zu ihnen gehörte, nicht in ihre Welt passte, nichts mit ihnen zu tun haben durfte, nicht ihre Luft atmen sollte, nicht glücklich sein durfte. Am liebsten wäre es ihnen womöglich gewesen, hätte ich gar nicht erst existiert. Warum? Weil ich wertlos war. Für sie zumindest.
Kein Interesse an den neuesten teuersten Klamotten zu haben, sich nicht zu schminken, anderes im Kopf zu haben als Party, Alkohol, Jungs und Sex, das waren Dinge, die sie nicht akzeptierten. Das allein reichte, um verstoßen zu werden. Hatte man dann noch, für sie nicht nachvollziehbare Hobbys, war alles aus. Ein Kind sein zu wollen, spielen und Spaß haben zu wollen, das war falsch. Wir waren Zwölf Jahre alt.

Tagtäglich wurde ich beleidigt, erniedrigt, gedemütigt. Tagtäglich haben sie sich über mich lustig gemacht, hatten Spaß auf meine Kosten. Tagtäglich wurde ich herum geschubst, getreten, geschlagen, mit Müll beworfen. Manchmal sperrten sie mich in den Toiletten ein. Einmal hatten sie mich mit Spielzeughandschellen im Jungsklo angekettet und mich dem Spott ausgesetzt. Die Hose hatten sie mir herunter gezogen und mich allein gelassen. Erst als der Unterricht schon längst begonnen hatte, fast schon vorbei war, fand man mich. Der Lehrer war skeptisch geworden, weil ich sonst nie zu spät kam. Die anderen hatten jedoch behauptet, ich sei nach Hause gegangen, weshalb man erst nicht nach mir suchte. Als man mich dort heraus holte, zitterte ich am ganzen Leib. Die Jungen die in die Toilette kamen, hatten mich unter Gelächter mit Wasser bespritzt, bis meine Kleidung durchweicht war. Ich fror.

So ging das ein paar Jahre. Ein paar viele Jahre. Und es waren nicht nur die Leute aus meiner Klasse. Menschen die ich noch nie gesehen hatte, pöbelten mich auf dem Pausenhof an. Die Pausen verbrachte ich grundsätzlich allein in dieser Zeit, denn Freunde hatte ich keine. Sie hatten den Leuten deutlich gemacht, dass jeder der sich mit mir abgab, das selbe Schicksal zu erwarten hatte. Von da an mied man mich.
Zuhause erzählte ich nur wenig. Meine Eltern wussten kaum etwas über mein Leid. Wenn sie mich aufforderten, mit meinen Freunden zu spielen, sagte ich entweder, sie müssten lernen, oder ging alleine nach draußen. Ich log. Doch meine Eltern ahnten, dass etwas nicht stimmte. Eines Abends stellten sie mich zur Rede und ich offenbarte ihnen alles. Ein schwerer Fehler wie sich herausstellte. Sie wollten mir helfen. Doch sie machten alles nur schlimmer. Sie wandten sich zuerst an den Klassenlehrer, dann an den Rektor und dann an die Eltern der anderen. Alle sprachen mit den Schuldigen, drohten ihnen. Zur Folge hatte das nur, dass die anderen mir die Schuld daran gaben, dass sie Ärger bekamen. Sie rächten sich an mir dafür. Das Leben war die Hölle.
Schnell bekam ich Suizidgedanken, lebte sie jedoch nie aus. Zu viel Angst hatte ich davor, wegzulaufen. Und ich wollte ihnen diesen Triumph nicht gönnen. Womöglich hätten sie sich daran sattgesehen. Ihr Verdienst, diese Sterbeanzeige in der Zeitung, dieser Bericht: „Schülerin begeht Selbstmord“. Sie hätten es genossen. Von dem Tag an, veränderte ich mich. Ich nahm das Messer von meinem Hals, legte es beiseite und ging schlafen. Der nächste Morgen brachte meinen neuen Ehrgeiz zum Vorschein. Den dazugewonnenen Stolz, das Selbstbewusstsein und den unbändigen Hass. Mittlerweile war ich Sechzehn Jahre alt.

Schon als ich die Aula betrat, fielen alle Blicke auf mich – so wie jeden Morgen – und der Hohn nahm seinen Lauf. Ich ignorierte sie, stieg die Treppe zum Klassenraum hinauf, setzte mich an meinen Platz. Die erste Stunde, sie verlief wie jede andere. Ich wurde beworfen, bespuckt, beleidigt. Als ich an die Tafel musste, wurde mir etliche Beine gestellt. Ich ignorierte es. Bis zum Ende der Stunde. Als der Lehrer den Raum verließ, stand ich auf und schloss die Tür. Alle sahen mich verwirrt an, fragten was das solle und zogen über mich her. Sie tummelten sich vor der Tür, wollten nach draußen. Ich sah auf, blickte ihnen in die Augen. Der nächste dumme Kommentar, der fiel, kassierte meine Faust im Gesicht. Der Junge taumelte erschrocken rückwärts. Jeder weiter der etwas sagte, wurde geschlagen. Egal was sie sagten. Und wenn es bloß „Hilfe“ war. Ich ließ meine Wut an ihnen aus. Denn jeder von ihnen hatte mitgemacht. Und keiner von ihnen hatte auch nur ein nettes Wort zu mir gesagt. Ich wollte sie leiden sehen, schlug Nasen blutig, trat in Genitalien, Bäuche. Ich trat auf sie ein, bis sie sich vor Schmerzen und Krämpfen am Boden wandten. Und es erfüllte mich mit diesem befreienden Gefühl von Genugtuung.
Von da an, sagte niemand auch nur ein Wort zu mir. Kein Nettes, kein Schlechtes, Nichts. Niemand wagte es mehr, mich zu bewerfen, zu berühren, ja noch nicht einmal anzusehen. Die Neuigkeit machte schnell die Runde, wie ein Lauffeuer verbreitete es sich: Ich war verrückt und gefährlich.
Die Lehrer sagten nichts dazu. Sie hatten mir nie geholfen, mich nie in Schutz genommen, da war es nur gerecht, dass sie mich nun nicht aufhielten.

Nach der Realschule ging ich an die FOS. Einige der anderen wechselten mit mir, verbreiteten sofort alles Wissenswerte über mich. Dennoch fand ich einige Freunde. Nicht alle ließen sich von den anderen beeinflussen und auf ihre Seite ziehen. Und schnell fand ich auch einen Freund, einen Jungen an meiner Seite, der erste in meinem Leben. Meine erste große Liebe. Er war der einzige, dem ich offenbarte wie schwach und verletzlich ich eigentlich war. Dass ich mich nur so stark gab und noch mehr Spott einfach nicht ertragen könnte. Ich erzählte ihm auch, dass ich mich am Abend diesen einen Tages selbst ermordet hätte, wenn mein Aufstand im Klassenraum nicht den erwünschten Effekt gehabt hätte. Ich habe ihm vertraut. Ich habe ihm meine gesamte Schwäche anvertraut. Doch wie das Leben so spielte, war das natürlich ein Fehler.

Nach unserem ersten Mal, machte er Schluss. Ich sei nicht gut im Bett und das war ohnehin alles, was er von mir gewollt habe. Er offenbarte all die Geheimnisse, die ich ihm anvertraut hatte. Er erzählte überall, wie schlecht und naiv ich im Schlafzimmer sei, zeigte einigen sogar Nacktbilder. Sofort standen fast alle wieder gegen mich. Sie erkannten, wie zerbrechlich ich tatsächlich war und dass ich eigentlich keine Bedrohung darstellte. Die Prügelaktion verlor jede Wirkung. Noch am selben Tag wurde ich wieder Grün und Blau geschlagen, meine Nase blutete und ich bekam einen Bluterguss am Bauch. Die nächsten Tage verbrachte ich Zuhause, gegen den Willen meiner Eltern, die mich in die Schule zwingen wollten, wegen der Noten und meiner Zukunft natürlich. Erst als ich den wachsenden Bluterguss zur Schau stellte, gaben sie nach.

Ich war wütend, enttäuscht, verletzt. Nicht von ihm. Von mir. Immer wieder fragte ich mich, wie ich so naiv sein konnte. Fragte mich, was mich dazu getrieben hatte, zu vertrauen. Ich hatte genau gewusst, was für ein abscheuliches selbstsüchtiges Wesen der Mensch ist und dennoch, hatte ich ihnen vertraut. Ich hatte mich ihnen hingegeben, hatte ihnen von meinen Sorgen, Ängsten und Schwächen erzählt. Ich hatte mich selbst zur Zielscheibe gemacht. Und das ertrug ich nicht. Mein Wille war gebrochen.

Und deshalb stehe ich nun hier. Auf den Gleisen. Und warte auf ein Ende. Denn ich bin gebrochen. Meine Seele zerstückelt und am Boden. Mein Kampfgeist dahin. Mein Lebenswille verflogen. Ich sehe nicht mehr den Sinn darin zu kämpfen. Habe keine Träume mehr. Will nur, dass es ein Ende nimmt.

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