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Der Stuhl neben mir



Dass die Lehrerin das Zimmer betreten hatte, bemerkten wir erst, als sie lautstark ihre Ordner auf das Pult knallte. Ernst ließ sie ihren Blick durch die Reihen schweifen, woraufhin alle zu ihren Sitzen eilten. Gänzlich still wurde es jedoch erst, als sie zu sprechen begann. Satz für Satz verstummte die Klasse, einer nach dem anderen.

„Wie einige von euch vor ein paar Tagen sicher in den Nachrichten mitbekommen haben, wurde eine Leiche am Ufer des Flusses gefunden. Ein junges Mädchen. In euren Alter. Man geht von Selbstmord aus. Der Grund ist aber noch unklar.“

Mein Blick fiel auf den leeren Platz neben mir. Ein paar Tage nun schon.

„Warum ich euch das erzähle, fragt ihr euch? Gestern wurde das Mädchen identifiziert.“

Nun fiel der Blick der Lehrerin auf den Stuhl neben mir. Hitze stieg in mir auf. Warum nur? Bilder drängten sich vor mein inneres Auge.

Sie lacht. Sie reibt sich den Arm und lacht. Das Licht spiegelt sich in ihren Brillengläsern, wenn sie mich ansieht.

„Eure Mitschülerin ist nicht krank. Sie ist tot!“

Ein Raunen zog durch die Menge. Einige entsetzte Ausrufe wurden laut, gefolgt von totenstille. Noch immer sehe ich sie vor mir.

Sie sitzt in einer Ecke auf dem Boden, völlig allein, versteckt das Gesicht hinter den Armen. Müll fliegt in ihre Richtung, trifft sie an Armen und Beinen und am Kopf.

Ich schnappe nach Luft.

„Man hat bereits mit den Eltern gesprochen, die das Mädchen identifizieren mussten. Sie sind völlig am Boden und können sich das Ganze nicht erklären.“

Seht mal, die Seuche kommt! Man ist die hässlich! Haltet euch bloß von der fern, sonst infiziert sie euch noch!“. Sie schleicht an uns vorbei mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern.

„Der Vater sagte wohl etwas von einem Jungen aus ihrer Klasse, der sie ärgerte. Dass soll sie ihm erst kürzlich erzählt haben.“

Mein Atem stockte. Das Herz blieb mir stehen. Nur am Rande nahm ich das erneute entsetzte Murmeln der anderen wahr.

Ihr Gesicht ist von Angst und Schmerz verzerrt und doch lacht sie. Es macht mich wütend. Immer dieses Lachen. Ich will sie weinen sehen. Leiden. Meine Hände schließen sich noch fester um ihren Hals. Verzweifelt schnappt sie nach Luft. Nun ist ihr das Lachen vergangen. Der Schulgong treibt die anderen in die Sporthalle. Ich lasse von ihr ab. Doch schon im selben Moment beginnt sie wieder leise zu lachen und es macht mich so wütend.

„Ich erwarte von euch, dass ihr euch meldet, wenn ihr etwas wisst oder eine Ahnung habt, wer dieser Junge sein könnte. Auch falls sich jemand in diesem Klassenraum angesprochen fühlen sollte, erwarte ich selbstverständlich, dass dieser sich freiwillig meldet.“

Niemand hatte uns jemals beachtet. Immer waren wir umgeben von Menschen, doch niemanden hatte es je interessiert, wenn ich sie würgte. Ihre Freundin stand neben uns, mit offenem Mund, verlor aber nie ein Wort darüber. Auch die Lehrerin, die jetzt so großkotzig daher redete, hatte es immer ignoriert, wenn ich das Mädchen im Unterricht schlug. Alle standen immer nur daneben. Sie hatten genauso Schuld. Sie hatten mich nicht abgehalten und ihr ebenso viele Beleidigungen an den Kopf geworfen, wie ich es tat.

„Die heutige Stunde verbringen wir damit, Beileidskarten für die Hinterbliebenen zu basteln“, sagte die Lehrerin kalt. Ihr Blick sprach stumme Worte: Sie duldete keine Widerrede. 

Kommentare

  1. Das ist gut, sehr gut! Ist die Geschichte autenstisch?

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    1. Vielen Dank das freut mich sehr. Es ist ein Gedankengang zu "was wäre wenn". Tatsächlich passiert, ist es in dieser Form nicht. Lediglich die kursiv geschriebenen Rückblicke sind reell passiert.

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